
Der Trainingsauftakt im neuen Jahr, morgens um 9 Uhr, passt zur Aachener Großwetterlage. Ein fieser Wind fegt über den Platz, Schwaden aus feinem Nieselregen mischen sich darunter. Manch muffeliges Spielergesicht will die Stimmung unterstreichen. Es fröstelt beim zahlungsunfähigen Traditionsklub.
Alemannia Aachen ist pleiter als jeder Geier und hat, ächzend unter akuten Millionenschulden, Ende November Antrag auf Insolvenz gestellt. Die Gläubiger – unter anderem Stadt, Sponsoren, Banken, Finanzamt, Lieferanten – müssen erst mal stillhalten. Der 50-Millionen-Palast für 33000 Zuschauer („Neuer Tivoli“) wurde überteuert finanziert, Rückschläge ignoriert. Schon 2010 warnten Wirtschaftsprüfer, zuletzt tauchten Forderungen erst gar nicht mehr in den Büchern auf, um scheinbar geordnete Bilanzen am Leben zu erhalten.
Goldfarbene Polster – Dokumente alemannianischen Größenwahns
Noch im Frühjahr 2012 wurde massiv umgeschuldet, der Kommune und dem Land zweistellige Millionen-Bürgschaften abgeluchst. Selbst hatte Alemannia zwar Planzahlen für die dritte Liga, aber nur auf dem Papier. Und so wuchs die akute Kostenwelle, munter vor sich hergeschoben, rasant weiter auf über vier Millionen Euro – und begrub den gelben Klotz.
Zahlungsunfähigkeit an sich ist nicht das Ende und bietet durchaus Optionen. Der Antrag auf Insolvenz bedeutet laut Verbandsstatuten nicht automatisch Zwangsabstieg in die vierte Liga. Der droht erst, wenn das Insolvenzverfahren tatsächlich eröffnet wird. Die neuen Verantwortlichen glauben, dass es dem DFB gegenüber Verhandlungspotential gibt. „Wenn wir die Sanierung im laufenden Betrieb schaffen und sportlich die Liga halten“, sagt Insolvenz-Geschäftsführer Michael Mönig, ein versierter Mann im Konkurs-Business, „darf man doch nicht wegen einer unzeitgemäßen Satzung dafür bestraft werden.“ Erste Gespräche laufen.
Aber egal ob entschuldeter Neustart in der dritten oder vierten Liga: Das funktioniert nur, wenn die Saison irgendwie mit irgendwelchen Leuten zu Ende gespielt wird. Also gilt: durchhalten, durchwursteln. Und das ist eine Aufgabe, die Herkules ins Schwitzen gebracht hätte. 2,5 Millionen Euro Minimum müssen bis zum letzten Spieltag im Mai irgendwo herkommen, um die laufenden Kosten (Gehälter, Strom, Abgaben, Kosten des Spielbetriebs) zu stemmen. Gelingt das nicht, muss das Insolvenzverfahren schon während der Saison eröffnet werden, was die sportliche Implosion für die Alemannia auslösen kann: Löschung aus dem Vereinsregister, Auflösung. Ein Neuanfang wäre in der Kreisliga D möglich. Das ist die elfte Liga.
Davor ist der große Optimismus des Insolvenz-Geschäftsführers Michael Mönig. „Wir können für ein halbes Jahr eine Käseglocke aufbauen und uns darunter mit der erhaltenden Sanierung selbst befreien.“ Aber nur, wenn alle mitmachen. Auf Geld verzichten, die Spieler vorneweg. „Und ich sage allen: Ich pokere nicht. Wir arbeiten gläsern. Es gibt keine Alternative.“
Womöglich werden einige ihren Arbeitsplatz verlieren. Und Sponsoren dürfen nicht abwarten, sondern müssen mitmachen – „Und zwar jetzt. Sonst ist der Zug in ein paar Wochen aus dem Bahnhof.“ Abgefahren aufs Abstellgleis der Fußballgeschichte.
Wir sitzen in Loge 1. Die Polster sind goldfarben, das Gestühl edelhölzern, das Parkett fein gegliedert: augenfällige Dokumente des alemannianischen Größenwahns. „Ja, die Ausstattung der Lounges wäre für Bundesliga Toplevel“, sagt Rechtsanwalt Prof. Rolf-Dieter Mönning, der beigeordnete Sachwalter, der mit Mönig die Sanierung wuppen will. Mönning spricht vom „Ritt auf der Rasierklinge“. Er hat in den Akten viel „kreative Buchhaltung“ entdeckt und weiß um die Absurditäten: „Wir sitzen hier ganz edel. Und die Stadt hat Anspruch auf Pacht. Aber im Moment können wir nichts zahlen.“
Beim Training auf dem überdimensionierten Parkhaus gleich neben dem überdimensionierten Stadion herrscht scheinbar business as usual. Viele unbekannte und sehr junge Gesichter sind dabei, Amateure und A‑Jugendliche. An die 200 Hütchen in zwei Größen und vier Farben sind aufgebaut; es gibt Sprints auf Zeit zur „Leistungsdiagnostik“. Die Botschaft lautet: Hier wird sehr ernsthaft gearbeitet, wir spielen weiter.
Zwischendurch fliegen sogar Lachsalven über den Platz. 7 gegen 2 auf engstem Raum macht auch in der Insolvenz einen Heidenspaß. Die Verlierer des Trainingsspiels müssen sich zum Abschluss rückwärtig auf die Torlinie kauern, die Sieger feuern je einen Vollspannschuss von der Fünfmeterlinie ab. Rittlings getroffen, brüllt mancher laut auf. Chefcoach René van Eck hat dieses Machismo-Teambuilding eingeführt.
Auch bei den Coaches wird geflachst und gealbert. Torwarttrainer Stefan Straub, der Keeper aus Aachens güldener Epoche Mitte der nuller Jahre (Pokalfinale, Europacup, Bundesligaaufstieg), ist der lauteste. René van Eck scheint ohnehin lebenslang beste Laune zu haben. Wieder schüttelt er lachend sein langes Haar. Später wird er in seinem seltsamen Niederländisch-Schwyzerdeutsch sagen: „Wir machen alles wie immer. Am Alltag ändert eine Insolvenz nichts. Und wenn hier morgen Schluss ist, ja – dann gehe ich eben. Meine Familie in Luzern wird sich auf mich freuen.“
Geschäftsführer Frithjof Kraemer ist längst vom Hof gejagt, Aufsichtsratschef Meino Heyen, einst Gründer des Tec-Dax-Konzerns Aixtron, ging zwei Wochen danach freiwillig. Die Schwerpunktstaatsanwaltschaft „Wirtschaftskriminalität“ in Köln ermittelt wegen Insolvenzverschleppung, Betrug, Steuerhinterziehung. Der DFB wittert geschönte Liquiditäts-Testate zum Saisonstart und droht mit zusätzlichen Punktabzügen für den derzeitigen Drittliga-Achtzehnten. Böse Zungen nennen Kraemer einen „Totenkraemer“ – aber, sagen heute alle, gewusst oder zumindest geahnt, wie steil es bergab ging, haben alle seit langem.
Jetzt gilt: sparen, sparen, Kosten deckeln. Der Pressesprecher hatte beim Telefonat im alten Jahr noch gesagt: „Bis Januar – falls ich noch hier bin.“ Jetzt ist er tatsächlich entlassen, die Probezeit machte es möglich. Keiner der 150 Angestellten – von den Spielern bis zur 400-Euro-Kraft – weiß, ob nicht morgen schon die Kündigung auf dem Schreibtisch liegt. Al-Aix, das Maskottchen (sprich dessen wechselnde Kostümträger), ist schon gekündigt. Den Job hat kommissarisch Michael Dzialoszynski übernommen, eigentlich Leiter des Alemannia-Mitgliederwesens. Bei Al-Aix gebe es „kein direktes Ertragspotential“, spöttelt der Diplom-Kaufmann im besten Insolvenzdeutsch. Die Situation „unter dem Damoklesschwert ist schon bedrückend“, sagt er, aber: „Alle ziehen an einem Strang und arbeiten nicht gegeneinander.“
Jörg Laufenberg ist auf der Geschäftsstelle seit 2005 eine Art Mädchen für alles. Der lebenslange Herzensalemanne („eigentlich bin ich immer noch mehr Fan als Angestellter“) kümmert sich um Behördengänge für die Spieler, besorgt ihnen Wohnungen, macht den Liveticker und ist seit Sommer als passionierter Groundhopper auch im Scouting tätig. Gerade versucht er Stürmer Freddy Borg auf Englisch zu erklären, was eine „Beitragsbemessungsgrenze“ ist. Die Stimmung, sagt Laufenberg, sei eigentlich unverändert gut. „Niemand verfällt in Panik. Wir Angestellte sind wie Patienten auf der Intensivstation. Und wir wissen, manchmal ist ein Todkranker auch 30 Jahre nach der Diagnose noch quicklebendig.“
Hoffnung und ein wenig Fatalismus wechseln sich ab. Die Empfangsdame in der weitläufigen Tivoli-Lobby hatte nach dem Begehr gefragt. „Ich habe einen Termin mit Herrn Mönig, der hier alles retten will, auch ihren Arbeitsplatz…“ Spitze Antwort: „Na, hoffentlich weiß der das auch.“ Yvonne Bongard, Mitarbeiterin im Veranstaltungsmanagement, hat gerade ein Elfmeterschießen mit dem Profitorwart als Gruppen-Event verkauft. Das ist wieder ein Hunderter Einnahme!? „Och, das sind schon ein paar hundert, je nach Teilnehmerzahl.“ Sie grinst. „Noch sind wir ja nicht Kreisklasse“.
Auch die Fans bluten. Alle Dauerkarten haben ihre Gültigkeit verloren
Auch Susanne Czennia hat Galgenhumor. Seit fast 14 Jahren ist sie Assistentin der Geschäftsführung. „Wer mir damals alles abgeraten hat“, erinnert sie sich. „Alle sagten: ›Alemannia? Lass das lieber. Die sind doch dauernd pleite.‹“ Die Hängepartie jetzt sei blöd. „Jeden Tag kann Schluss sein.“ Czennia ist quasi vom Fach, ihr Arbeitgeber bis 1999 war eine Baufirma, die in Konkurs ging. „Ich kannte das alles, mit Insolvenzgeld zum Beispiel. Insofern passt das jetzt ja.“ Ein klein wenig lacht sie jetzt sogar.
Thomas Stehle, der Dienstälteste im Kader, will bleiben, „auch die fünf Monate für weniger Geld. Vielleicht wird es nicht so schlimm, wie man hört.“ Die Lage sei halt „mega-schwierig im Klub“, eine „beschissene Situation“, wie ihm auch die Spielergewerkschaft VDV bestätigte, weil das wochenweise Weitermachen unter Insolvenz eben „kein Standardfall“ sei. „Die meisten Spieler“, sagt Stehle, „haben auch keine Alternative. Wir haben ja in der Vorrunde nicht gerade auf uns aufmerksam gemacht.“
Ein anderer Kicker aber schimpft: „Jetzt geht es heiligheilig nur um Alemannia. Der Sportdirektor kann sich eine Gehaltshalbierung leisten. Das ist sein erster Job, und wenn er das gut durchzieht, steht er zukünftig prima da.“ Was wohl die Arbeitsgerichte sagen, fragt er, „Familienväter einfach rauszukicken…“ Viele Sponsoren, argwöhnt er, seien bestimmt längst wieder im Boot. Aber das werde erst kommuniziert, wenn die aussortierten Spieler klein beigegeben haben. Ob die Kicker untereinander über die kargen Angebote sprechen? „Ob? Witzig! Es geht seit Wochen um nichts anderes.“
Und die Einnahmenseite des Klubs? Es hilft nur frisches Geld. 500000 Euro netto brachte das ausverkaufte „Rettungsspiel“ am 20.Januar gegen den FC Bayern. Weitere Ticketeinnahmen werden überschaubar bleiben. Also muss Vertrauensrückbau bei der vergrätzten Stadt her, deren Oberbürgermeister vor Wochen schon „kriminelle Energie“ witterte. Und vor allem braucht der Klub Sponsorengeld.
In diesem Bereich gibt es eine neue Verantwortliche: Rica Reinisch, 47, übernahm mitten in der Insolvenz das Marketing. „Ja, vielleicht geht meine Aufgabe nur sechs Wochen“, sagt die dreifache DDR-Schwimm-Olympiasiegerin von Moskau 1980, später eine engagierte Kronzeugin in den Prozessen gegen Chefdoper Manfred Ewald. „Aber wahnsinnig bin ich nicht. Das hängt mit meiner Sportlerseele zusammen. Ich packe an. Geht nicht, gibt’s nicht.“
Also macht sie Kontakte, fordert und redet „mit der gleichen Gradlinigkeit und Klarheit, die meine absolute Lebensmaxime ist und in diesem Klub lange gefehlt hat.“ Reinisch brennt vor Tatendurst: „Es muss aus den Köpfen raus, wie hier Geld verbrannt wurde, diese ganze riesengroße Scheiße, dieser Klüngel. Damit ist Schluss. Millionengrab war gestern. Wir haben ein neues Team, der Sportdirektor, dieser tolle Trainer. Und ich sage allen: Wir packen das hier ganz neu an, komplett, bei minus eins.“ Reinisch weiß um den fesselnden Charme, der ihre strukturierte Klarheit umflort. „Klar, man kann Optimismus verströmen und mit Authentizität die Stimmung hochziehen“, sagt sie. „Aber alles straight heraus, ohne Spielchen, für die Sache, alles auf den Tisch.“
Wow. Wenn nicht diese Rica Reinisch potentielle Geldgeber zu packen kriegt, gelingt es niemandem. Nach einer halben Stunde Gespräch mit ihr will einem fast schon Euphorie in die Tasten fahren. Und mit Schaudern denkt man an die Alternativen: Falls Alemannia zerbricht, bleibt da nicht nur der tiefe Herzschmerz Tausender und die Zerschlagung des erfolgreichen Nachwuchsleistungszentrums (Alemannias A- und B‑Junioren spielen in der Bundesliga), sondern auch ein ungenutztes Stadion, das man aus Lärmschutzgründen und wegen fehlender Fluchtwege nicht mal für Konzerte nutzen kann. Mit so einer Neubau-Ruine, sagt Rolf-Dieter Mönning, läge Schilda dann in Aachen.
Jahrelang würde sich halb Aachen über die Schuldigen zerfleischen, Sündenböcke würden durch die Printenstadt getrieben, Sponsoring-Auswirkungen gäbe es langfristig bis tief in den Kulturbereich. Manche Aachener sagen aber auch: Dann wäre endlich mal Schluss mit diesem unendlichen Alemannia-Theater. Das Tivoli-Grab würde den Steuerzahler noch mal 30000 Euro für Sicherung und notdürftige Instandhaltung kosten. Minimum, monatlich, unbegrenzt. Paradox: Alemannia kann zwar keine Miete mehr zahlen, hilft aber durch die Nutzung dennoch beim Kostensparen. Alternative wäre: Abriss. Den könnte es besenrein schon für zehn Millionen Euro geben.
„Jetzt zählt es, jetzt. Oder eben nie mehr“, sagt Rica Reinisch und verschwindet zum Termin mit dem nächsten potentiellen Sponsor. Dessen Gebäcke werfen Millionen ab Jahr um Jahr, und vielleicht bald Saison um Saison.
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