
Ottmar Walter war 20, als er das erste Mal überlebte. Mit 135 anderen Männer hockte der Fußballer und Soldat an jenem Tag im Sommer 1944 in einem Suchboot an der französischen Atlantikküste, als Geschosse von britischen Zerstörern das Wasserfahrzeug zerfetzten. Elf Mann überlebten, Ottmar Walter war einer von ihnen. Fünf Tage gab ihm der Lazarett-Arzt. Fünf Tage, um sein Bein wieder zu bewegen. Sonst sei es verloren. „Ich schaffte es in vier Tagen, mit zehn Kilo an jedem Fuß wippte ich stundenlang unter unbeschreiblichen Schmerzen.“ Als der Krieg vorbei war, war ein Kniegelenk des jungen Mannes von Granatsplittern durchsetzt. Aber Ottmar Walter konnte wieder Fußball spielen.
Ein gescheiterter Selbstmordversuch
Ottmar Walter war 44, als er das zweite Mal überlebte. Mit aufgeschnittener Pulsader fanden ihn ein Freund und sein 18-jähriger Sohn und brachten ihn ins Krankenhaus. Gerade noch rechtzeitig. Die Ärzte retteten Walter das Leben, nach wenigen Tagen wurde er wieder entlassen. Ein gescheiterter Selbstmordversuch. Ottmar Walter versuchte es noch einmal mit dem Leben.
24 Jahre lagen zwischen diesen beiden Ereignissen. 24 Jahre, in denen Ottmar Walter seinen nationalen Ruhm als Vorzeige-Stürmer und Weltmeister begründete. In denen aus dem verwundeten Kriegsheimkehrer ein gefeierter Fußballer und aus dem Weltmeister ein tragischer Held wurde, der mit dem Leben danach nicht zurecht kam.
1947 machte er seine ersten Spiele nach dem Krieg. Natürlich für seinen Heimatklub, den 1. FC Kaiserslautern. Sein Bruder Fritz war da schon ein Star, schon 1940 hatte der sein ersten Länderspiel bestreiten dürfen. Jahre später, Ottmar hatte sich die ersten Sporen beim FCK verdient, stieg der große Bruder gemeinsam mit dem Vater, einem Gastwirt, in eine Wette ein: Ein Faß Bier für Ottmar, falls der es jemals zum Auswahlspieler bringen werde. „Im Leben wird er das nicht“, urteilte Fritz. Monate später schuldete er seinem Bruder eine Menge Pils: beim ersten Nachkriegsländerspiel gegen die Schweiz am 22. November 1950 stand Ottmar Walter auf dem Platz. Als Ersatzmann für seinen verletzten Bruder.
Ein halbes Jahr später, beim Meisterschaftsendspiel gegen Preußen Münster 1951, lieferte der frisch gebackene Nationalspieler seine vielleicht beeindruckendste Leistung ab. Trotz eines eingeklemmten Rückennervs und dem von den Folgen der Kriegsverletzung schmerzenden Knie, schoss Walter beide Lauterer Tore zum 2:1‑Sieg. Den Meisterring mit der Aufschrift „1. FCK“, ein Geschenk seines Klubs, trug er bis zuletzt am Ringfinger der linken Hand – das Metall war längst mit seinem Fingergelenk verwachsen.
Dann, drei Jahre später: der große Triumph von Bern. Nach dem Finale ließ Deutschland den „alten Fritz“, seinen Bruder, hochleben. Auch Toni Turek, den Herbert Zimmermann kurzerhand zum „Fußballgott“ ernannt hatte. Und natürlich ihn, den doppelten Finaltorschützen Helmut Rahn. Eine begnadete Fummelkutte, der sein Toooor!Toooor!Toooor! nur deshalb erzielte, weil seinen völlig freien Mitspieler ignoriert hatte. „Ich habe mich kaputt geschrien“, erinnerte sich Ottmar Walter einst an jene sagenumwobene 84. Minute, „Er hätte nur abzuspielen brauchen. Ich wäre drei, vier Meter aufs Tor zugerahnt und hätte dann abgezogen.“ Erinnerungen im Konjunktiv, Erinnerungen ohne Wert. Weltmeister war er trotzdem, mit vier Turniertreffern hatte er einen bedeutenden Anteil am historischen Erfolg. Bis 1959 ging er noch für den FCK auf Torjagd, 295 Treffer waren es am Ende. In 275 Spielen.
Alkohol? Zocken? Dubiose Geschäfte?
Als der Fußball Geschichte war, versuchte sich Walter, wie viele seiner ehemaligen Mitspieler, als Unternehmer. Und wie viele seiner Kollegen muss ihn das überfordert haben. Er führte eine Tankstelle, Anfang der sechziger Jahre ein Klassiker für das zweite Dasein ausgemusterter Fußballer. Als dem Weltmeister die Geschäfte außer Kontrolle gerieten, brodelte es in der Gerüchteküche. Er soll zur Flasche gegriffen haben! Er soll zocken gegangen sein! Er soll sein Geld bei dubiosen Aktionen versucht haben zu vermehren! Das flüsterten sich jedenfalls jene zu, die nach dem gescheiterten Selbstmordversuch plötzlich aus ihren Höhlen krochen, und als anonyme Anrufer bei den Zeitungen ihr vermeintliches Insiderwissen kundtaten. Wahr war wohl nur die Sache mit dem Alkohol. Nicht nur in den sechziger Jahren ein Klassiker der Problembekämpfung.
Dass er nach dieser privaten Katastrophe (Monate zuvor hatte sich schon seine Frau versucht, das Leben zu nehmen) wieder zurück in die Spur fand, war vielleicht die größte Leistung seines Lebens. Die Stadt Kaiserslautern griff dem Pfälzer Idol unter die Arme und besorgte ihm eine Stelle in der Verwaltung. Mit den Spätfolgen aus Krieg und Karriere musste er sich allerdings weiterhin rumplagen. 1982 verhinderte ein komplizierter Eingriff an der Wirbelsäule in einem Kölner Krankenhaus, dass sich Abnutzungserscheinungen, ausgelöst durch Verletzungen, zu einem ernsthaften Problem ausweiten konnten. Wenige Jahre später musste er dennoch in Frührente gehen. „Ich habe die Invalidität in Kauf genommen für die guten Jahre im Fußball“, beschrieb er es einmal treffend.
Dann wurde es noch ruhiger um den ohnehin sehr ruhigen Ottmar Walter. Runde Geburtstage, Jubiläen, das ein oder andere Spiel seines FCK, da hörte man mal wieder was von ihm. Irgendwann beschwor die „Bild“-Zeitung einen Zickenkrieg zwischen ihm und den beiden anderen letzten 54er-Weltmeistern, Horst Eckel und Hans Schäfer herauf. Walter wirkte auch aufgrund seiner kantigen Gesichtszüge wie ein verbitterter Großvater. Dabei hatten ein paar alte Männer sich einfach nichts mehr zu sagen. Soll vorkommen.
Ottmar Walter starb, von Alzheimer gezeichnet, am 16. Juni 2013. Mit 89 Jahren. Noch einmal überleben wollte er diesmal nicht.
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